Der Schatten des massigen Kirchturms der Katharinenkirche fällt auf die Backsteinmauer, die den kleinen Garten des Konservatoriums umgibt. In meiner Erinnerung ist es mild, jedoch nicht warm. Die Sonne allerdings hat schon genügend Kraft und vermag zu wärmen, wenn man aus dem Schatten heraustritt. Ein schöner Frühlingsmorgen im April. Auf Empfehlung meines Gitarrenlehrers Ulrich Müller habe ich mir Minuten zuvor in einer Buchhandlung die dtv-Ausgabe von Nicolaus Harnoncourts „Musik als Klangrede“ gekauft. Ich setze mich auf die niedrige Mauer und beginne zu lesen, in der Erwartung bedeutende Erkenntnisse über wichtige Aspekte der Historischen Aufführungspraxis zu gewinnen. Nicolaus Harnoncourt, der große Visionär einer gerade sich mehr und mehr durchsetzenden historisch informierten Aufführungspraxis, zunächst Cellist bei den Wiener Philharmonikern unter Herbert von Karajan, nun Dirigent des Concentus Musicus Wien, seines eigenen Ensembles. Schon beim ersten Lesen der Einleitung gerate ich ins Stocken und meine Welt gerät ein wenig ins Wanken. Bisher war das Neueste, was ich auf der Gitarre gespielt hatte, Leo Brouwers „Elogio de la Danza“ gewesen. Im Studium standen Komponisten wie Johann Sebastian Bach, John Dowland, Fernando Sor, natürlich Isaac Albéniz, Manuel Maria Ponce, Federico Moreno Torroba, Joaquin Turina im Mittelpunkt meines Interesses. Ich will mehr über die korrekte Ausführung von Barockmusik und der Musik der Klassik erfahren. Aber gleich auf den ersten Seiten fordert Nicolaus Harnoncourt jeden Musikausübenden - also auch mich - dazu auf, sich mit der Sprache der Zeitgenössischen Musik, der Aktuellen Musik auseinanderzusetzen. Ein klares Statement: als Musiker, als Interpret musst Du die Sprache der Musik Deiner Zeit verstehen und Dich mit ihr auseinandersetzen. Ich bin aufgerüttelt von diesen Gedanken, die mich unvorbereitet treffen. Das hatte ich von diesem Buch über Aufführungspraxis als allerletztes erwartet. Ein klares Statement für die Musik unserer, meiner Zeit, für die Neue Musik. Dies war ein Schlüsselerlebnis, das mir eine neue Gedankenwelt aufstieß.
Sie merken, ich werfe die Begriffe „Neue Musik“, „Aktuelle Musik“, „Zeitgenössische Musik“ bunt und willkürlich durcheinander. Ich gebe zu, dass ich mich nicht entscheiden kann. Wahrscheinlich gibt es feine Unterschiede, die mir entweder nicht bekannt, bzw. die mir jetzt einfach nicht wichtig sind. Nach der Lektüre von „Musik als Klangrede“ begann ich zu recherchieren. Über Umwege stieß ich auf die Information, wenigen Monate zuvor sei eine neue CD mit Musik von Steve Reich erschienen. Den Namen Steve Reich kannte ich. Er war wiederholt in einem der hervorragenden Musikgeschichtsseminare von Prof. Dr. Peter Schnaus gefallen. Ich besorgte mir die CD. Bei jpc, die damals noch einen gut sortierten Laden in der Osnabrücker Innenstadt hatten, wollte ich die CD kaufen. Die CD musste bestellt werden. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich vermute, dass es sicher zwei, vielleicht drei Wochen gedauert hat, bevor ich die CD abholen und hören konnte. Was dann folgte, war eine kleine Offenbarung. Die Musik von Steve Reich, hier gespielt vom Jazz-Gitarristen Pat Metheny, das war neu für mich und sie erreichte mich unmittelbar. Minimal Music. Ich meinte Parallelen zur frühen Mehrstimmgkeit eines Perotinus erkennen zu können. Auch davon hatte ich kurz zuvor eine CD erworben und war wie elektrisiert von der phantastischen Aufnahme mit dem Hilliard Ensemble beim Label ECM. Die Noten zu Reichs „Electric Counterpoint“ bestellte ich mir kurz darauf im Musikhaus Bössman, das es inzwischen schon lange nicht mehr gibt. Aber, ich habe mich damals nicht sofort daran gesetzt, „Electric Counterpoint“ zu spielen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich sowieso auch keine E-Gitarre mehr. Meine 72er USA-Telecaster, die ich als Jugendlicher von meinem zweiten Gitarrenlehrer erworben hatte, hatte ich leider weiterverkauft, um genügend Kapital für eine neue, bessere Konzertgitarre zu haben. Mit der Gitarre zusammen verkaufte ich den Fender Amp und ein paar Effektgeräte, darunter den grünen Ibanez Tube Screamer und den Chorus von Boss. Equipment, für das ich in diversen Ferienjobs das Geld verdient hatte. Das war bevor ich mein Studium aufnahm.
Nun war ich inzwischen mitten im Studium und übte mein Repertoire in Vorbereitung auf die Diplomprüfung. Für „Electric Counterpoint“ war da kaum Platz, dachte ich. Wenige Monate, bevor ich mein eigenes Diplomkonzert spielte, hörte ich einen Klarinetten-Studenten eines höheren Semesters mit Reichs „New York Counterpoint“. Ich fand es sehr cool, aber da war es für mich leider schon zu spät, mein Prüfungsprogramm zu ändern.
Die ersten Studienjahre in Osnabrück waren prägend. Ich hatte einen Lehrer, der mir das Fenster zur Kammermusik weit aufstieß. Ich spielte damals bereits Boccherinis Fandango-Quintett mit Streichquartett, das Schubert-Quartett zusammen mit Flöte, Viola und Cello, eine Komposition, welche eigentlich von Matiegka stammt und zu der Schubert lediglich die Cellostimme ergänzt hatte. Und ich spielte Paganini und Piazzolla mit einem Kommilitonen aus der Geigenklasse, arbeitete mit verschiedenen Sängerinnen zusammen, in die ich meistens auch noch verliebt war. Von der Vielfältigkeit des Repertoires, das ich in dieser Zeit kennenlernte, profitiere ich noch heute. Mein Lehrer Ulrich Müller war ein großartiger, inspirierender Kammermusiklehrer. Er ermunterte mich zudem, E-Gitarren-Unterricht bei einem Jazz-Gitarristen zu nehmen, der am Konservatorium unterrichtete. Trotz meiner Begegnung mit der Gedankenwelt Harnoncourts und einer grundsätzlichen Neugier und Offenheit allem Neuen gegenüber, war ich allerdings doch fokussiert auf das klassisch-romantische Repertoire und ließ diese Chance, bei Heiner Beringmeier Unterricht zu nehmen, leider ungenutzt verstreichen. Das bereue ich heute.
Während meiner Studienzeit in Osnabrück habe ich regelmäßig an Meisterkursen mit Frank Bungarten teilgenommen und mehr oder weniger regelmäßig Privatunterricht bei ihm in Hannover bekommen. Bis heute schätze ich seine kompromisslose und einzigartige Art und Weise, Gitarre zu spielen. Für meinen Geschmack: klassische Gitarre auf allerhöchstem Niveau, technisch und musikalisch. Seine Aufnahmen beim Label Dabringhaus und Grimm sind für mich sowohl von der Aufnahmenqualität, als auch vor allem interpretatorisch und spieltechnisch absolut „outstanding“. Die begleitenden CD-Booklets zu lesen, ist immer wieder ein intellektueller Genuß.
Nach dem Studium am Konservatorium in Osnabrück wechselte ich nach Hamburg an die Hochschule für Musik und Theater (HfMT). Meine Lehrer dort waren - ebenfalls - keine ausgewiesenen Experten für Neue Musik. Ich bewegte mich in Kreisen von Musikstudenten, die mit der Zeitgenössischen Musik wenig am Hut hatten. Eine Ausnahme gab es gleich zu Beginn meines Studiums in Hamburg. Eine Blockflötenstudentin fragte mich, ob ich mit ihr zusammen in ihrer Abschlussprüfung „Médée Midi Désert“ des französischen Komponisten Arnaud Dumond aufführen könne. Alle Vortragsangaben in den Noten waren auf Französisch, haufenweise unverständliche Gitarren-Fachbegriffe, die ich vergeblich in meinem gelben Langenscheidt-Französisch-Deutsch-Lexikon zu finden versuchte. Das Internet gab es noch nicht. Jedenfalls nicht für mich. In meiner Verzweiflung rief ich bei Peter Finger, dem phantastischen Fingerstyle-Gitarristen und Label-Chef von Acoustic Music in Osnabrück an, denn ich wusste, dass seine Frau Französin ist. Sie konnte mir helfen. Danach wusste ich, an welche Stellen zwischen den Saiten ich die Stricknadeln stecken musste, und wo ich mit dem Geigenbogen streichen sollte, um die verschiedenen Klangeffekte zu erzielen.
Später einmal erhielt ich eine Anfrage von einem jungen Kompositionsstudierenden, bei der Aufführung eines seiner Werke mitzuwirken. Das Werk sollte allerdings bereits drei Tage später aufgeführt werden. Der ursprünglich vorgesehene Gitarrist war kurzfristig abgesprungen. Die Partitur stellte mich vor unlösbare Probleme. Keine Chance. Meine Mitwirkung an dem Stück von Jörn Arnecke, heute Professor in Weimar, musste ich schweren Herzens absagen.
Im Rahmen meines Konzertexamensstudiums ging ich für fast ein Jahr als Erasmus-Student nach Malmö, Schweden, um in der Klasse von Prof. Göran Söllscher zu studieren. Eines meiner großen gitarristischen Vorbilder und ein großer Beatles-Fan, so wie ich selbst. Auch er kein ausgewiesener Vertreter der Neuen Musik für Gitarre. Sehr zum Leidwesen seines Kollegen Gunnar Spjuth, der wiederholt bemerkte, wie schade es sei, dass Göran seine exponierte Stellung im Musikleben - Göran Söllscher als Exklusivkünstler bei der Deutschen Grammophon und eine bedeutende Persönlichkeit in der Gitarrenwelt - nicht mit mehr Nachdruck dazu nutze, Neue Musik für Gitarre zu spielen und bekannt(er) zu machen. Gunnar hatte kurz zuvor eine CD aufgenommen, auf der u.a. ein Waltz des 18-jährigen Frank Zappa enthalten war. Für meinen Geschmack damals war das etwas verwegen. In Malmö gab es einen Gitarristen, der sich auf Neue Musik spezialisiert hatte: Stefan Östersjö. Unter uns Gitarrenstudierenden galt er als Freak. Freak in der Bedeutung von Sonderling. Heute weiß ich, dass er nicht nur ein phantastischer Musiker, sondern zudem ein ungeheuer netter und hilfsbereiter Mensch ist, der mir bereits sehr viele gute Tips gegeben hat.
Während meines Studiums in Malmö lebte ich in einer WG zusammen mit einem finnischen Austausstudenten, der zuvor an der Sebelius-Akademie in Helsinki studiert hatte. Matti, ein wirklich wahnsinnig talentierter Gitarrist. Überhaupt war das Niveau in der Klasse von Söllscher damals sehr hoch und ist es wahrscheinlich heute noch. Mehrfach musste ich während dieser Zeit des Studiums dort in Malmö an Thomas Bernhards „Der Untergeher“ denken. (Falls Sie das Buch nicht gelesen haben, holen Sie es nach, aber bitte nur, wenn Ihr Selbstbewusstsein einigermaßen intakt und gefestigt ist…). Mit meinem finnischen Freund verbrachte ich die oft trüben Sonntagnachmittage im schwedischen Winter in der Wohnung im Problemstadteil Helenholm.
Wir hörten sehr laut „Electric Counterpoint“, nun in der Fassung für klassische Gitarre, aufgenommen von Mats Bergström. Auf der CD enthalten waren zudem eine sehr kurze, aber faszinierende Komposition von Anders Hillborg, bei der neben der Gitarre ein ziemlich cooler Percussion-Groove mitläuft und natürlich noch Åke Parmeruds „SubString Bridge“, das titelgebende Stück auf der CD. Diese Komposition hat mich schon damals total gefesselt. Und sie begeistert mich auch heute noch beim Hören. Die Gitarrenklänge werden verändert, verfremdet. Alles wird auf der klassischen Gitarre gespielt, keine E-Gitarre verwendet. Ich konnte mir nicht erklären, wie Mats Bergström diese Klänge erzeugen konnte. Von Max/ MSP hatte ich noch nie gehört und es sollte auch noch etwas dauern, bis ich von den Möglichkeiten dieser Software erfuhr.
Ich war wieder zurück in Hamburg. Mein Konzertexamen hatte ich abgeschlossen. Immerhin: in meiner Abschlussprüfung hatte ich u.a. ein dreisätziges Werk des Jazz-Gitarristen Ralph Towner gespielt. Das war schon ein bisschen ungewöhnlich.
Etwas später, ich hatte inzwischen selbst Lehraufträge an den Hochschulen in Rostock und Hamburg, erlebte ich einen weiteren Moment, der meinem Denken eine neue Richtung gab. Eines Abends hörte ich mir ein Konzert eines Gitarristen und eines Gambisten im Spiegelsaal im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe an. Auf dem Programm standen vor allem klassische Werke, wahscheinlich sogar auf historischen Instrumenten gespielt. Daran erinnere ich mich nicht genau. Woran ich mich erinnere ist, dass ich im Konzert saß und urplötzlich dachte: was hat diese Musik, diese Aufführung dort oben auf der Bühne mit mir zu tun? In meiner Fantasie sah ich mich selbst dort oben sitzen. In ein paar Jahren. Ich sah mich selbst, nicht die beiden Interpreten dort. Es war ein äußerst starkes und immens frustrierendes Gefühl, fast kann man von einer Depression sprechen, die mich damals in dem Moment befiel. Ich ging nach Hause und in den nächsten Tagen durchforstete ich das Internet. Es musste doch Musik für Gitarre geben, die etwas mit dem Heute und dem Jetzt zu tun hatte. Nach einigen Stunden der Recherche, blieb ich an dem Video mit der Aufnahme einer Komposition von JacobTV hängen. Zunächst verstand ich nicht, was es mit JacobTV auf sich hatte. War das nun eine Band, der Titel des Stückes? War die Musik improvisiert oder komponiert? Es dauerte noch etwas, bis ich verstand, dass es sich bei JacobTV um einen niederländischen Komponisten handelt, der eigentlich Jacob Ter Veldhuis heißt, von amerikanischen Musikern, die seinen niederländischen Namen unaussprechlich fanden, aber in JacobTV umgetauft wurde. Das Stück: „Grab it“, ursprünglich für Saxophon, in dem Video gespielt auf der E-Gitarre von Kevin Gallagher.
Auch der Interpret weckte durch sein mehr als überzeugendes Spiel sofort meine Neugier. Ich fand heraus, dass Kevin 1. Preisträger in zwei der bedeutendsten Wettbewerbe für klasssische Gitarre war: dem Wettbewerb der Guitar Foundation of America (GFA) und des Tárrega-Wettbewerbs im spanischen Benicasim. Aber, die Gitarre hier in dem Video war eine Stratocaster, stark verzerrt, mit Wah-Wah- und Chorus-Effekt. Dazu lief ein Zuspiel mit abgehackten Stimmschnipseln. „Motherfucker, yeah“. Stimmen von in amerikanischen Zellen einsitzenden Häftlingen, entnommen einer Dokumentation, wie ich später erfuhr. Ich kaufte mir eine E-Gitarre, wieder eine Telecaster. Diesmal die Sonderedition „La Cabronita“ mit zwei Humbucker-Pickups, setzte mich mit Kevin Gallagher in Verbindung, dann mit JacobTV. Ich musste mehr davon haben.
Es gelang mir, zu organisieren, dass die Pop- und Weltmusikabteilung der Hochschule für Musik und Theater Rostock JacobTV zu einem Workshop einlud. Wenige Monate darauf dann hatte ich es zu meiner großen Freude und mit Unterstützung des zuständigen Redakteurs einfädeln können, dass die renommierte NDR-Reihe das neue werk auf meine Initiative hin ein ganzes Portrait-Konzert mit Werken von JacobTV plante. Ich konnte Kevin Gallagher aus New York nach Hamburg einladen, um ihn live „Grab it“ spielen zu hören. Weiterhin auf dem Programm „The Body of your Dreams“, ein ebenso faszinierendes Werk für zwei (akustische) Gitarren und Zuspiel, das ich im Duo mit Kevin spielte. Neben dem Konzert beim NDR konnte ich noch eine Reihe weiterer Duo-Auftritte mit Kevin organisieren. Wir führten die Werke von JacobTV auf, eine Komposition von Allan Hovhaness und Minimal Music von Marc Mellits. Ein paar Sachen spielten wir auf der klassischen Gitarre, andere auf der E-Gitarre. Zudem ging ein langgehegter Traum in Erfüllung, denn ich spielte - mehr als zwanzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem Werk - zum ersten Mal Steve Reichs „Electric Counterpoint“ live im Konzert.
Zwei Jahre später stand ich dann auf der Bühne der gerade neu eröffneten Elbphilharmonie. Mit einer E-Gitarre, diesmal meiner kurz zuvor erworbenen wundervollen Gibson „Les Paul“ in cherry red. Zusammen mit dem Jazz-Gitarristen Kalle Kalima, dem Ausnahme-Bassisten John Eckhardt, dem Drummer Jonathan Shapiro und der Keyboarderin Ninon Gloger spielten wir „2 x 5“ von Steve Reich. Dieses Programm hatten wir im Jahr zuvor schon zweimal im Auftrag des NDR aufgeführt, u.a. in Hamburg im Club uebel & gefährlich. Das Konzert in der Elbphilharmonie fand im Rahmen eines Minimal Music Festivals statt und Steve Reich war persönlich da.
Ich habe ihm die Hand geschüttelt. Da Sie den Text bis hierher gelesen haben, können Sie vielleicht nachempfinden, was das für mich bedeutet hat. Steve Reich, die Ikone der Minimal-Music und meine erste wirklich bewußte und nachhaltige Begegnung mit Aktueller Musik damals in Osnabrück. Leider war ich in dem Moment dort in der Elbphilharmonie zu schüchtern, ihn um ein gemeinsames Foto zu bitten, was ich mir heute kaum verzeihen kann.
Wenige Monate zuvor war an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg auf meine Initiative hin das Fach E-Gitarre wahlfrei für Bacherlor-Studierende eingeführt worden. Ich hatte Seth Josel, diesen bedeutenden Neue-Musik-Gitarristen und Ausnahmekünstler für einen workshop an die HfMT eingeladen, wenig später dann den Jazzer Kalle Kalima. Dessen Aufnahme mit Kronthaler, bei der er mit einer Sopranistin und einem Bassisten Musik u.a. von Monteverdi und Purcell in modernem Gewand präsentierte, fand ich und finde ich immer noch sehr zeitgemäß und cool. Eine Masterclass mit Mats Bergström habe ich für die HfMT organisiert. Mats ist für mich der Prototyp eines zeitgemäßen Gitarristen. Er spielt Bach und Sor auf der klassischen Gitarre genauso großartig wie Werke von Steve Reich oder Gabriel Jackson auf der E-Gitarre. Als Liedbegleiter arbeitet er mit der international renommierten schwedischen Sopranistin Malena Ernman, der Mutter von Greta Thunberg (sic!), zusammen. Als Gitarrist hat er über viele Jahre eng mit dem Franfurter ensemble modern zusammengearbeitet. Im vergangenen Jahr hatten wir dann David Tanenbaum aus San Francisco, Widmungsträger des einzigen Gitarrenkonzertes von Hans Werner Henze, hier an der Hochschule. Er ist einer der zur Zeit der wichtigsten Vertreter der Gitarrenmusik und hat - neben Henze - noch zahlreiche weitere Komponisten motiviert, für die Gitarre zu schreiben. Und die absolut großartige Fingerstyle-Gitarristin Jule Malischke, hatten wir ebenfalls zu Gast an der HfMT.
Was denken Sie, wie war die Resonanz der Studierenden auf alle diese Angebote? Nur sehr wenige - für mein Empfinden erstaunlich wenige - Studierende an der HfMT haben diese - für sie kostenlosen - Angebote wahrgenommen. Auf Nachfrage höre ich von den Gitarrenstudierenden immer wieder, es ginge nicht, sie hätten zu viel mit dem Üben des klassischen Repertoires zu tun, sie müssten sich intensiv auf Ihre Prüfungen/ Konzerte etc. vorbereiten. War ich als Student so viel anders? Ich denke wieder an Nikolaus Harnoncourt. Die klassische Gitarre und ihre Interpreten leben oftmals in einer Parallelwelt, das ist den meisten von uns inzwischen bewusst. Vielen Studierenden, die mit enorm großer Motivation und unter erheblichen Einsatz das Ziel verfolgen, selbst einmal zu den gefeierten Klassikgitarristen zu zählen, jedoch oftmals nicht. Das ist sicherlich normal, wenn man im Alter von Anfang 20 an der Hochschule das Instrument Gitarre studiert. Vielleicht muss sogar so sein, denke ich. Allerdings braucht es im Umfeld der Studierenden auch immer diejenigen, die versuchen, ihnen alternative Möglichkeiten zur - teilweise zumindest fragwürdigen - Klassikkarriere zumindest aufzuzeigen. Stimmen Sie mir da zu?
Es gibt eine sehr lebhafte (Gitarren-)Festivalszene im Bereich Klassik, in der eigentlich immer dieselben Interpreten auftreten. Manuel Barrueco, David Russel und noch ein paar weitere. Manchmal kommt ein neuer Name hinzu. Schon länger sind beispielsweise Zoran Dukič, Marcin Dylla und natürlich Aniello Desiderio dabei. Alles tolle Spieler, großartige Virtuosen. Meisterhafte Musiker. Dennoch lassen mich die Konzerte meistens vergleichsweise kalt, wenn ich aufrichtig bin. Was hat das mit mir zu tun? Mit dem Heute, mit dem Jetzt? Vielleicht bin ich lediglich frustriert, weil ich nicht zu dieser ersten Garde der Klassikgitarristen dazugehöre? Ganz ehrlich: das ist eine Frage, die ich mir schon häufiger gestellt habe. (Wieder kommt mir Thomas Bernhards „Der Untergeher“ in den Sinn…). Meine Antwort, spätestens wenn ich auf Facebook wieder einmal ein Foto mit den immergleichen Gesichtern beim Abendessen im Anschluss an ein Gitarrenfestivalkonzert sehe, weiß ich: nein, es ist absolut gut so, wie es ist. Ich gehöre nicht dazu und das ist vollkommen OK. Meine Suche geht weiter. In eine andere Richtung.
Heute bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass gerade wir Gitarristen uns wesentlich intensiver mit der Neuen Musik und dem Repertoire der komponierten Musik für E-Gitarre, aber auch mit Improvisation beschäftigen müssen. Inzwischen werden freie Stellen an Musikschulen für Gitarristen oft so ausgeschrieben, dass eine Lehrkraft gesucht wird, die beides kann, Klassik und E-Gitarre. Das schreibe ich jetzt aus meiner Sicht als Dozent für Fachdidaktik/ Lehrpraxis Gitarre. Aber, das wäre lediglich nur einer von einer Vielzahl von guten Gründen, diese Aspekte in der Ausbildung an der Hochschule wesentlich stärker in den Fokus zu rücken. Vielleicht eher den Generalisten, denn den Spezialisten ausbilden? Ich bin mir bewußt, dass dieser Gedanke an den Hochschulen sicherlich einigen Widerspruch hervorruft.
An der Hochschule für Musik und Theater Hamburg habe ich mit dem Komponisten und Multimedia-Spezialisten Prof. Dr. Georg Hajdu einen Verbündeten gefunden. Prof. Dr. Hajdu hat selbst Gitarre spielen gelernt. Gerade hat er sich eine „Les Paul“ von Epiphone gekauft, hat er mir berichtet. Er ist Dekan im Bereich Instrumentalmusik und damit in einer Position, an der HfMT Dinge in die eine oder eben in die andere Richtung bewegen und Akzente setzen zu können. Er unterstützt meine Bestrebungen, die Neue Musik, die E-Gitarre unter den Gitarre-Studierenden an der HfMT zu etablieren.
Im kommenden Sommersemester werden wir unter dem Arbeitstitel „GuitarLab“ gemeinsam ein Seminar anbieten. Wahlfrei zunächst. Es existieren bereits Gedanken, E-Gitarre und Neue Musik als Pflichtfach einzuführen. Meine Wunschvorstellung: einen Masterstudiengang „Contemporary Guitar Performance“ zu schaffen. Auch hierzu gibt erste Gedankenspiele. Damit wäre die HfMT in der deutschen Musikhochschullandschaft zunächst allein, soweit ich weiß. Unique selling point.
Inhalte im „GuitarLab“ werden das Repertoire der komponierten Musik mit E-Gitarre sein, vor allem auch im Ensemblespiel. Und damit meine ich nicht reine Gitarren-, sondern gemischte Ensembles mit anderen Instrumentalisten und Sängerinnen und Sängern.
Die Studierenden werden unter professioneller Anleitung - Prof. Dr. Hajdu hat ein phantastisches Team an der HfMT - mit Max/ MSP und Ableton experimentieren, eigene Ideen und eigene kleine Kompositionen realisieren können. Vielleicht gelingt es noch, einen E-Gitarrenbauer wie Andreas Deimel für einen Vortrag zu gewinnen. Gern hätte ich Mischa Kreiskott für einen Vortrag dabei. Er ist Redakteur beim NDR und dort zuständig für das junge Programm NDR Kultur Neo. „Klassik trifft Neo Classical, Weltmusik, Pop, Jazz oder Electronica“, so heißt es auf der Website des NDR zu diesem Format. Mischa hat selbst sehr erfolgreich klassische Gitarre studiert, bevor er sich für das Musikjournalismusstudium entschieden hat. Mit ihm hatte ich schon einige sehr interessante Gespräche zum Thema. Am Ende des Sommersemesters sind dann der Komponist und E-Gitarrist Steven Mackey von der Princeton University und der Experte für Mikrotonale Gitarrenmusik, Tolgahan Çoğulu aus der Türkei, bei uns an der HfMT zu Gast.
Ich wünsche mir sehr, dass dies erst ein Anfang ist, der zu einer deutlich erkennbar stärkeren Auseinandersetzung der Gitarrenstudierenden der HfMT mit der Neuen Musik und mit der E-Gitarre führt. Das Forum, der große Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, wurde gerade mit einer faszinierenden Akustikanlage und einer riesigen LED-Wand in allerfeinster Qualität ausgestattet und zählt damit sicherlich zu den modernsten Konzertsälen dieser Art in ganz Deutschland. Das wäre eine zusätzliche Motivation, dort einmal mit einem multimedialen Programm auftreten zu können. Wenn man dazu noch die Synergieeffekte in Kooperation mit dem Tonlabor der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) nutzen könnte, wäre es perfekt.
(...)
Wir leben im Jahr 2020, Donald Trump ist Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, eine inwischen 17-jährige Klimaaktivistin aus Schweden bringt Hunderttausende, vielleicht Millionen dazu, sich mit dem Klimawandel zu beschäftigen und setzt damit Politiker, die Mächtigen dieser Welt unter Druck.
Ich sitze an der Gitarre und überlege, ob die Note zum nächsten Takt eher abgesetzt oder legato gespielt werden sollte und ob meine Fingernägel ausreichend gefeilt und poliert sind, damit ich einen guten Ton auf der klassischen Gitarre hinbekomme. Ja, warum nicht? Später verbinde ich das Kabel meiner E-Gitarre mit dem Fender Blues Junior Amp und übe „Grab it“.
Am Nachmittag im Heute und Jetzt: der Schatten der Elbphilharmonie fällt auf die Stufen, die zum Kaiserquai hinunterführen. Ich sitze auf der Mauer. Es ist Ende Januar und hier an der Elbe ist es jetzt ziemlich ungemütlich, windig und bitter kalt. Ich trete aus dem Schatten heraus, in meinen Händen halte ich mein Exemplar von Harnoncourts „Musik als Klangrede“, in dem ich gerade blättere. In ein paar Wochen beginnt der Frühling. Ganz sicher.
links:
Steve Reich "Electric Counterpoint" Electric Counterpoint @ Körber Stiftung Hamburg
JacobTV "Grab it" Kevin Gallagher performs "Grab it"
JacobTV "The body of your dreams" Kevin Gallagher & Heiko Ossig @ NDR das neue werk
Steve Reich "2x5" MiNiM! performs Steve Reich @ NDR Klubkonzert
Hamburg, 28.01.2020